Ein Brief nach Wien (1996)

Dies ist ein offener Brief nach Wien, an den sehr geehrten Herrn Bundespräsidenten, den sehr geehrten Herrn Bundeskanzler, den sehr geehrten Herrn Minister für Kunst und Wissenschaft, den sehr geehrten Herrn Wiener Bürgermeister und die sehr geehrte Frau Wiener Stadträtin für Kultur. Also sehr geehrte Damen und Herren!

Zu meinem 50. Geburtstag, zu meinem 60. Geburtstag, zu meinem 65. Geburtstag und zu meinem 70. Geburtstag habe ich vom jeweiligen Herrn Bundespräsidenten, Bundeskanzler, Unterrichtsminister, Wiener Bürgermeister und Wiener Kulturstadtrat- oder rätin einen Glückwunschbrief oder ein Glückwunschtelegramm bekommen, außer von Herrn Dr. Waldheim. Ich habe mich jedesmal für die Glückwunsche bedankt, aber dann war die Korrespondenz zu Ende, und ich habe wieder fünf bzw. zehn Jahre warten müssen, bis ich wieder etwas von Ihnen gehört habe, nämlich pünktliche Glückwünsche zu meinem nächsten runden Geburtstag.

Nun werde ich im kommenden Jahr 75 Jahre alt, und da möchte ich rechtzeitig einen Wunsch äußern: Da ich mir nicht vorstellen kann, daß Sie sich alle persönlich an meinen Geburtstag erinnern, denn da müßte ja jeder von Ihnen ein Genie sein, nehme ich an, daß mein Name auf irgendeiner Liste steht, auf der die Geburtstage diverser Österreicher vermerkt sind, die im Interesse der Republik –sterreich sind, und da möchte ich Sie höflichst bitten zu veranlassen, daß ich von dieser Liste gestrichen werde.

Ich bitte nicht darum, weil ich sauer bin, denn es geht mir ja sehr süß fur einen alten Herrn, und ich will auch nicht unhöflich sein, aber schauen Sie: Erstens bin ich kein österreichischer Staatsbürger und kann schon deshalb nicht im Interesse der Republik Österreich sein. Ich bin zwar in Wien geboren, wie meine Eltern, und ich war bis zum März 1938, als ich 15 Jahre alt war, österreichischer Staatsbürger, aber dann wurden alle österreichischen Staatsbürger automatisch deutsche Staatsbürger, also auch ich, und ich besitze immer noch meinen damaligen deutschen Reisepaß mit einem J drin, also vielleicht bin ich noch Deutscher, ohne es zu merken, wenn auch mit einem J.

Aber auf keinen Fall bin ich Österreicher, denn im Jahre l945, nach Kriegsende, wurden die Österreicher, die 1938 Deutsche geworden waren, automatisch wieder Österreicher, aber diesmal nur diejenigen, die die Nazizeit mitgemacht hatten. Wer unter Lebensgefahr ins Ausland geflüchtet wurde, also auch ich, bekam seine österreichische Staatsbürgerschaft nicht mehr zurück. Ich habe mich genau erkundigt: Da ich kein Nazi war und mir überdies die Flucht vor den Nazis gelungen ist, müßte ich bei Gericht um meine österreichische Staatsbürgerschaft ansuchen, und Sie werden vielleicht verstehen, warum ich mich nicht in diese Situation begeben möchte. Es widerstrebt mir zutiefst, jemanden um die österreichische Staatsbürgerschaft bitten zu müssen. Ich bin seit l943 amerikanischer Staatsbürger, obwohl mir der Clinton noch nie zum Geburtstag gratuliert hat.

Zweitens aber, und das ist vielleicht noch wichtiger, kann ich nicht im Interesse der Republik Österreich sein, weil sich die Republik Österreich in den über vierzig Jahren, seit ich nach Europa zurückgekehrt bin, noch nie um mich geschert hat. Kein subventioniertes Theater, kein subventionierter Verlag, kein Funk, kein Fernsehen, keinerlei Schauspiel-, Musik- oder sonstige Schule, keine österreichische kulturelle Organisation hat mich je um Mitarbeit gebeten. Und wenn man mich manchmal vorübergehend engagieren, ein Buch von mir publizieren oder ein Fernsehprogramm mit mir veranstalten will, treten sofort diverse Leute auf den Plan, die es verhindern wollen und meistens auch können, sicher zu ihrer Freude, aber nicht zu meinem Leid, denn mir geht es unter solchen Umständen besser, wenn ich nicht nach Österreich komme. Glücklicherweise hat man mir nie die Chance gegeben, Sehnsucht nach Österreich zu haben.

Ich weiß - die Künstlerverhinderung hat in Österreich eine lange und berühmte Tradition, das geht über die ganz Großen bis zu Thomas Bernhard, der verfügt hat, daß seine Stücke in Österreich nicht gespielt werden dürfen. So weit will ich natürlich nicht gehen, daß ich verfüge, daß "Taubenvergiften im Park'' in Österreich nicht gespielt werden darf. Denn erstens kann das österreichische Publikum nichts dafür, daß es dort so miese Kulturbeamte, Kritiker und sonstiges Gerümpel gibt, und zweitens könnten sich ja eines Tages die Verhältnisse in Österreich ändern, obwohl es jetzt noch keine Anzeichen dafür gibt. Im Gegenteil, es gibt genügend Künstler in Österreich, die es sich irgendwie richten und sich dabei wohl fühlen, es gibt auch genügend Afterkünstler und Dilettanten, die den Kulturbeamten die Zeit vertreiben, und es gibt genügend Künstler, die am Hungertuch nagen oder an irgendeinem Stuhl, also wird die Operette wahrscheinlich so bleiben wie sie ist.

Aber ich persönlich finde es unpassend und vielleicht auch Ihren hohen Ämtern nicht entsprechend, daß Sie meine runden Geburtstage zu einer Art Reinwaschung verwenden, anstatt zumindest den Versuch zu unternehmen, Unrecht zu verhindern - nicht bei mir, denn dazu ist es zu spät, aber bei anderen. Und ich möchte dieser Heuchelei, die nur meinen Tod abwartet, um mich posthum zum Österreicher ernennen zu können, keinen Vorschub leisten. Noch bin ich am Leben, noch kann ich mich dagegen wehren. Deshalb ersuche ich Sie heute höflichst, meinen Namen von den entsprechenden Listen entfernen zu lassen und in Ihrer offiziellen Funktion von weiteren Geburtstagswünschen abzusehen.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Georg Kreisler

Basel, 16. September, 1996

(veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, Feuilleton, 01.10.1996)