Alben & Lieder

Familiensinn

1963, Text/Musik: Georg Kreisler

Wär unser Lehrer nicht ein Opiumpfeifenraucher,
und wär der Vater nicht so süchtig nach Absinth,
und tränk die Mutter nicht zuhaus
pro Tag zwei Whiskyflaschen aus,
dann wäre ich vielleicht ein brauchbareres Kind.

Wär meine große Schwester nicht so schrecklich mannstoll,
und wär die kleine nicht im Trinkerheim zur Kur,
und wär mein Bruder etwas wert
und nicht schon wieder eingesperrt,
dann hätte ich vielleicht ’ne bessere Zensur.

Schließlich sind ja solche Dinge erblich.
Meine Erbschaft ist direkt zum Heuln.
Ja, Perversitäten sind verderblich.
Das sagte schon mein Kindergartenfreund.

Wenn ich im Kindergarten Emil nicht geküsst hätt’,
ich sagt’: geküsst, jedoch es war ein bisschen mehr.
Und wenn ich selber nicht kokett
ihm dieses Mehr geboten hätt’,
wer weiß, ob Emil nicht ein Musterjunge wär.

Ich bin ja nur eins von zwölf Geschwistern.
Wir beziehn das Morphium en gros
und den Alkohol nur in Kanistern,
denn das senkt den Preis und hebt’s Niveau.

Mit uns in der Wohnung wohn’ drei Tanten.
Eine wandelt nachts in ihrem Schlaf.
Eine ist im Zuchthaus bei Bekannten,
und auch die drei Onkel sind nicht brav.

Einer mußte gestern plötzlich fliehen.
Einer hat mit Schmugglern viel Kontakt.
Und der dritte macht Photografien.
Der photographiert uns alle nackt.

Außerdem wohnt Vaters armer Vetter
auch bei uns, denn wir sind sozial.
Doch der wartet nur aufs warme Wetter,
und dann wohnt er wieder im Kanal.

Man sieht: Mir mangelt bloß die richtige Umgebung.
Und trotzdem find ich meine Kinderstube nett.
Wenn Tante Emma nicht im Rausch
mit ihrem Ohrenwattebausch
die ganze Wohnung gestern angezündet hätt’.

Zwar: für uns Kinder war die Sache ein Erlebnis.
Doch Onkel Willy, der hat schrecklich lamentiert.
Denn dadurch fand die Polizei
seine Devisendruckerei.
Die hatte er bei uns im Keller etabliert.

Er wird den Arrest schon übertauchen.
(Vorher hat er Emma noch versohlt.)
Doch die Druckerei ist noch zu brauchen:
Vater’n hat sie gründlich überholt.

Mir macht nur eines keine Sorge: die Berufswahl,
denn darin hab ich andern Kindern was voraus.
Ob sich ’ne Tante um mich schert
und mich das Straßenbetteln lehrt,
ob meine Schwester mir vielleicht
mal was von Kaufhausdiebstahl zeigt,
ob ich bei Mutters erstem Mann
vielleicht Erpressen lernen kann,
oder in Vaters altem Fach,
dem schönen Rauschgifthandel, mach,
irgendeiner bildet mir schon aus!
Und wenn ich tüchtig bin,
dann werd ich Wöchnerin.
Wir hab’n Familiensinn
bei uns zu Haus.