Interview mit Georg Kreisler

von Stefan Balzter
Stefan.Balzter@musik.uni-giessen.de

Aus: Musik und Unterricht, Heft 53 / November 1998. Mit freundlicher Genehmigung von Musik und Unterricht.

"Schwarzer Humor im deutschsprachigen Raum ist ohne Wien nicht denkbar", urteilt Georg Kreisler, 76, und unterschlägt dabei bescheiden die Tatsache, daß schwarzer Humor in Wien wiederum ohne Kreisler undenkbar ist. Mit seinem "Taubenvergiften im Park" hat der heute in Basel lebende Grandseigneur des Kabaretts schon in den Fünfziger Jahren Maßstäbe im Makabren gesetzt, an denen sich seine beruflichen Nachfahren heute noch messen lassen müssen. Aber nicht nur die makabre Groteske, auch lyrische Chansons, "seltsame Liebeslieder" (ein Plattentitel), politische Lieder bis hin zum Anti-AKW-Song gehören zu seinem Repertoire. Immer wieder, durch mittlerweile fünf ausgefüllte Bühnenjahrzehnte hindurch, bekam er für seine Lieder und politischen Meinungsäußerungen Zensur und persönliche Anfeindungen zu spüren. Im Herbst geht der Altmeister, der 1938 sechzehnjährig vor den Nazis nach Amerika fliehen mußte und dort seine ersten (englischsprachigen) Bühnenerfahrungen sammelte, wieder mit alten und neuen Liedern auf Tournee. Das vorliegende Brief-Interview entstand am 29. Juni 1998.

1. Was bedeutete es für Sie, sich nach dem in Amerika ausgebliebenen Kabarett-Erfolg mit der fremdgewordenen deutschen Sprache auseinandersetzen zu müssen? War Ihr unvoreingenommener, von außen kommender Blick auf diese Sprache vielleicht sogar ein Vorteil, der Ihnen umso überraschendere Wort- und Klangspiele in Ihren Texten ermöglichte?

Für mich war die Wiederentdeckung der deutschen Sprache nach 17 Jahren Amerika ein aufregendes Erlebnis, das 1-2 Jahre dauerte. Sicherlich hat es auch einen Einfluß auf meine deutschen Formulierungen ausgeübt. Das tut es vielleicht noch heute, denn noch heute spreche ich manchmal in der Aufregung Englisch oder ringe um ein deutsches Wort, dessen englische Übersetzung mir geläufig ist.

2. "Im Alter würde es mich auch nicht wundern, wenn man mir sagte, ich hätte den 'Faust' geschrieben", bemerken Sie auf Ihrer CD "Fürchten wir das Beste". Sie sind nun mit beinahe 76 Jahren einer der, wenn nicht der dienstälteste Kabarettist überhaupt. Wie wirkt(e) sich das Älterwerden auf Ihren Schaffensprozeß aus? Mit welchen Zielen sind Sie damals aufgebrochen, und welche haben Sie aus Ihrer Sicht erreicht?

Das Zitat, daß ich auch "Faust" geschrieben haben könnte, muß man nicht wörtlich nehmen, es hat aber einen wahren Kern. Das mit dem Alter ist so: Erstens kommt man drauf, daß man überhaupt kein Ziel erreicht hat, weil alles, was man je geschrieben, komponiert oder gedacht hat, verbesserungsbedürftig ist. Und zweitens erkennt man, daß der Weg das Ziel ist.

3. Besonders in den Sechziger Jahren bezogen Sie sich in Ihren Lieder immer wieder auf die jüdische Kultur in Europa. Was bedeutet Ihnen das bzw. Ihr Judentum heute? Wie stehen Sie zum Gedanken des Zionismus und zu seiner historischen Umsetzung?

Ich bin Jude, ob ich will oder nicht. Das ist einerseits ein Nachteil, weil es den Antisemitismus gibt, und andererseits ein Vorteil, weil es den Antisemitismus gibt und man lernen muß, damit zu leben. Es wechselt ab, manchmal ärgert man sich, und manchmal ist es eine ungeheure Bereicherung, und dann ist man dankbar dafür. Zionist bin ich nie gewesen, weil mir immer jeder Nationalismus fremd war, vor allem der jüdische. Die Antwort auf den Antisemitismus ist nicht der eigene Staat, sondern die Umerziehung der Menschheit. Einen Staat auf Mißtrauen zu gründen, ist falsch. Allerdings - nun, da der Staat Israel existiert, darf man ihn nicht fallen lassen. Aber kluge Israelis erkennen längst, daß die Zukunft des Staates Israel nur durch Versöhnung mit den Arabern gesichert werden kann. Zionismus ist der Feind, Gleichberechtigung ist die Antwort auf der ganzen Welt.

4. Ihre Lieder aus den Siebzigern scheinen, obwohl sich eine gelegentliche Melancholie durch Ihr ganzes Werk zieht, von allen am resigniertesten, einige fast depressiv. Eine "schwierige Phase" in Ihrem Leben oder nur der expliziteste Ausdruck einer all Ihrem Schaffen zugrundeliegenden Unzufriedenheit?

Eine Charakterisierung meiner Lieder kann ich nicht nachvollziehen, da mir der Schöpfungsprozeß weitgehend unbekannt ist. Ob sie lustig oder traurig, depressiv oder aggressiv werden, weiß ich vorher nicht. Ich glaube aber nicht, daß sie mit meinem sogenannten "wirklichen" Leben etwas zu tun haben.

5. Daran anknüpfend: Wie stehen Sie überhaupt zu dem Versuch, Ihr Werk in verschiedene Phasen oder Perioden einzuteilen? Sehen Sie selbst Zäsuren in Ihrem Schaffen - etwa vom Makabren zum Lyrischen zum explizit Politischen? Hat z.B. die 68er-Bewegung Ihre Art, Lieder zu machen, verändert?

Natürlich kann man meine Arbeit in Perioden einteilen, wenn man will, denn ich habe mich ja im Lauf der Zeit verändert. Aber meine Arbeitsweise ist die gleiche geblieben: ein Klavier, eine Schreibmaschine, ein paar Nachschlagewerke und Ruhe.

6. "Diese Lieder hörn die Leute immer wieder / Und der Flieder blüht im nächsten Mai genauso violett." - "Es hat keinen Sinn mehr, Lieder zu machen." Wie passen solche Zeilen zu der Tatsache, daß Sie Letzteres heute, Jahrzehnte nach Niederschrift dieser Worte, immer noch mit Herz und Seele tun?

Diese Frage geht an der Sache vorbei. Als man den Maler Franz Marc fragte, warum er ein blaues Pferd male, Pferde seien doch nicht blau, antwortete er: "Das ist ja auch kein Pferd, das ist ein Bild." So ähnlich müßte ich die Frage beantworten: "Das ist ja auch nicht mein Leben, das ist ein Lied."

7. Wo sehen Sie Ihre musikalischen und textlichen Vorbilder, und welche zeitgenössischen Künstler hatten in der Nachkriegszeit den größten Einfluß auf Sie? Mit wem sind Sie und mit wem wären Sie gerne zusammen aufgetreten - damals in Wien, aber auch in der Historie?

Ich habe so viele Vorbilder, die ich bewundere, daß es schwierig wäre, alle aufzuzählen. Zeitgenössische Künstler hatten und haben wenig Einfluß auf mich.

8. Wie geht die Entstehung eines Kreisler-Liedes vonstatten? Vertonen Sie Ihre Gedichte, oder schreiben Sie Texte über Ihre Musikstücke - oder eine Mischform aus beidem? Ist zuerst der Wille zu einer Aussage da, oder vielleicht eine Idee, ein Wort, eine Formulierung, ein Klang?

Wie ein Lied bei mir entsteht, das ist ganz verschieden. Es ist ja auch ein Unterschied, ob ich ein Lied schreibe, das irgendwie entsteht, oder ein Lied für eine Rolle in einem Theaterstück. Ich kann die Frage auch gar nicht vollständig beantworten, denn ein Teil meiner Arbeit ist Inspiration, und darüber kann man keine Auskunft geben, da man sie nicht versteht, und der andere, ebenso wesentliche Teil ist Technik. Über die Technik müßte man ein Buch schreiben, keine Briefantwort. Dramaturgie, Reimtechnik, die Verwendung von Zitaten und so weiter - das gehört zum Handwerk. Das eignet man sich langsam an, indem man von seinen Vorbildern lernt, oder auch durch ausprobieren, streichen etc. Das muß man in literarischen Texten ebenso wie in der Musik und in jeder anderen Kunst. Daß man heute immer wieder auf "Künstler" trifft, die vom Handwerk keine Ahnung und trotzdem Erfolg haben, ist traurig, aber es beweist gar nichts.

9. Viele Ihrer Lieder leben von Ihren radikalen, makabren und manchmal auch offen antipazifistischen Phantasien. Wie sieht es mit der Praxis aus? Auf einer ihrer Schallplatten sind Sie als Teilnehmer einer Demonstration abgebildet. Wie militant sind Sie in Ihrem Leben geworden?

Auch die Frage, wie militant ich gewesen bin, kann ich kaum beantworten, denn da müßte man zuerst definieren, was man unter Militanz versteht. Das Mitmarschieren in einer Demonstration ist ja nicht besonders gefährlich oder militant. Wenn man unter "militant" versteht, daß man immer für seine Überzeugungen eintritt, auch wenn sie einem beruflich oder karrieremäßig schaden, dann bin ich einer der militantesten Menschen, die ich kenne. Was ich mir schon geschadet habe und immer noch schade, das macht mir so bald keiner nach. Aber ich muß hinzufügen, daß ich mir das gar nicht hoch anrechne. Ich bin so auf die Welt gekommen und kann gar nicht anders, brauche also zu meiner Militanz keinerlei Disziplin.

10. Welche Gefühle haben Sie heute, wenn Sie Stücke aus den 50er und 60er Jahren spielen? Sind diese Werke nach wie vor aktuell, oder verstehen Sie eine Tournee wie "Die alten bösen Lieder" eher nostalgisch? Welche Ihrer Lieder von damals finden Sie heute noch besonders zeitgemäß?

Ich habe meine alten Lieder andernorts mit Kindern verglichen, die erwachsen geworden sind. Sie gehören zu meinem Leben, aber sie sind nicht mehr (meine) Kinder. Sicher sind manche zeitgemäßer als andere, aber total zeitgemäß ist keines mehr. Das macht nichts, auch Mozarts Musik ist nicht mehr zeitgemäß, und er würde sich sehr wundern, wenn er heute wieder auf die Welt käme, vor allem würde er dann ganz anders komponieren. Trotzdem spielt man Mozart zu Recht, denn die Vergangenheit ist wichtig. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft.

11. Presseberichten zufolge ist die Schweiz auf dem Weg zum rigidesten Asylrecht Europas; Justizminister Koller spricht von einem "Rückführungsstau", den er aufzulösen gedenkt, Asylverfahren sollen bei Einreisenden ohne Papiere schlichtweg abgeschafft werden zugunsten einer sofortigen Abschiebung. Wie stehen Sie zum politischen Klima in Ihrer Wahlheimat? Hat sich seit den Tagen Ihres Schweiz-Chansons "Der Ausländer", in dem Sie verbreitete Vorurteile in der Eidgenossenschaft angriffen, überhaupt etwas geändert?

Die Ausländerfeindlichkeit in der Schweiz, ob man sie jetzt "Asylrecht" nennt oder "Überfremdung", ist genau so schlimm und so falsch wie anderswo. Man hat nur wenig dazugelernt seit den 30er Jahren. Ob der Fortschritt - auch auf anderen Gebieten - nur sehr langsam vonstatten geht, ob er immer wieder mit Rückschritten verbunden sein muß, oder ob er überhaupt ausgeschlossen ist, weil die Natur ihn nicht zuläßt - wer vermag das zu sagen? Uns bleibt nur übrig, im eigentlichen Sinn "militant" zu sein.